Sandra Gasser: «Ein 1500-m-Lauf sollte ein Spiel bleiben»

Die «Swiss Athletics History Makerin» Sandra Gasser (Jahrgang 1962) gewann von 1984 bis 1993 einen kompletten Medaillensatz an den Hallen-Europameisterschaften über 1500 Meter. Auf derselben Distanz errang sie zwei Bronzemedaillen an der EM 1990 in Split und an der Hallen-WM 1993 in Toronto. Die Leichtathletik hat sie bis heute nicht losgelassen. Für uns blickt die Mittel- und Langstreckentrainerin des STB zurück auf ihre turbulente Karriere und verrät, was sie ihren eigenen Athleten mit auf den Weg gibt.   

An welche Momente deiner Karriere erinnerst du dich am liebsten?
Das ist schwierig. Viele Sportler sagen ja, es gebe nicht den einen Moment, sondern ganz viele und jeder Moment hat einen anderen Grund, warum er so einzigartig ist. Etwa die erste SM-Medaille mit 12 Jahren über 600 m, da habe ich geheult vor Freude. Wie später auch an der WM. Oder in der Halle, wo ich 1984 Bronze geholt habe und dann drei Jahre später sogar Gold, obwohl ich vorher dachte, ich würde nie mehr eine Medaille gewinnen. Oder die Hallen-WM 1993, bei der ich gestürzt bin und dann doch noch Dritte wurde. Jeder Moment ist einzigartig. Auch die 800×800-m-Staffel, die mein Verein zu meinem Wiedereinstieg 1989 organisiert hat. Solche Momente haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.

Und welche Momente schmerzen immer noch?
Ganz klar die Bekanntmachung meines Dopingfalls, als ich in Zürich abgeholt wurde und mir Hansjörg Wirz, damals Direktor von Swiss Athletics, mitteilte, dass meine Probe von der WM in Rom positiv gewesen sein soll. Dieser Moment war noch nicht so schlimm, weil ich es nicht glauben konnte und fest überzeugt war, dass es sich um einen Irrtum handle, der sich später aufklären würde. Nachher der Schock und die Erfahrung, was das alles mit sich bringen würde. Wie viel Schmerz. Noch heute ist es wie ein Stich ins Herz, wenn ich über mich lese: «Dopingsünderin». Die Erinnerung an jene Zeit ist zwar verblasst, aber man merkt, dass einen die Vorkommnisse in Rom ein Leben lang begleiten.*

Trotzdem hast du vor und nach der Sperre auch viele schöne Kapitel geschrieben. Wem hast du deine Erfolge zu verdanken oder anders gefragt: Wer war dein persönlicher «Swiss Athletics History Maker-Maker»?
Das waren sicherlich mehrere Personen. Das fängt an bei meinem Nachbar, der mich sozusagen «entdeckt» hat und meine Eltern darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich Talent hätte und meinen Bewegungsdrang in einem Verein ausleben sollte. Dann meine Eltern, die mich immer begleitet haben und wahrscheinlich die grössten Fans von mir waren. Später natürlich die Trainer im STB. Zuerst die Nachwuchstrainer, dann Hans Sommer, der eine wichtige Person war. Nachher mein Mann, Beat Aeschbacher, der zunächst mein Trainingspartner war und später in die Fussstapfen von «Housi» Sommer trat. Daneben hat mir mein Vereinskollege Markus Ryffel eine Teilzeitanstellung in seinem Laufshop ermöglicht, worum ich neben meinen Sponsoren ebenfalls sehr dankbar war.

Was sind die Vorteile, wenn man vom eigenen Lebenspartner trainiert wird?
Der wichtigste Vorteil: Man lebt und erlebt alles zusammen, kann die Dinge mit jemanden teilen, und zwar mit dem engsten Menschen. In meinem Fall war mein Trainer bereit, sein Leben meinem unterzuordnen, damit es funktionierte. Ausserdem war Beat viel involvierter, kannte mich, meine Stärken und Schwächen sehr gut, wusste schon vor dem Training, ob ich müde bin oder nicht.

Gab es auch Reibungspunkte?
Gerade weil man so nah zueinandersteht, verhält man sich zum Teil sehr direkt. Vor allem der Trainer zum Athleten. Da wird nichts in nette Worthülsen verpackt, nur damit es schöner klingt. Das kann manchmal sehr hart sein. Damit muss man umzugehen lernen. Die Kritik zielt ja nicht auf mich als Frau, Partnerin oder Mensch, sondern auf die Athletin – und die will weiterkommen. Das unterscheiden zu können, war nicht immer einfach. Entsprechend war ich auch mal sauer und es kam zu Reibereien. 

Wer hat dich als junge Athletin inspiriert?
Zu Beginn sicherlich die Trainingsgruppe. Ich wollte die Beste werden, das dauerte einige Zeit, zumal ich mit Älteren trainierte. Danach orientierte ich mich an der nationalen Spitze, hier natürlich an Cornelia Bürki. Das wiederum war ein Geschenk, weil Cornelia Weltklasse war. So bewegte ich mich bald auch auf internationalem Niveau, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Später trat ich gegen internationale Konkurrenz an und wollte irgendwann auch hier die Beste werden.

Die Beste werden – hat dich dieser Wunsch angetrieben?
Am Anfang stand ganz klar die Freude am «Secklä». Das habe ich einfach gern gemacht. Dadurch dass ich danach sehr schnell sehr gut wurde, ging es bald auch um die Leistung. Ausserdem habe ich gemerkt: Ich werde wahrgenommen. Vorher war ich eher unscheinbar gewesen, konnte nichts speziell gut, hatte eher ein schlechtes Selbstvertrauen oder zumindest keinen Grund, ein grosses Selbstvertrauen zu haben. Der Sport hat mir rasch gezeigt: Du bist jemand, du wirst wahrgenommen, das war sicher auch ein Antrieb. Das Schönste aber: Wenn man ausgangs Zielkurve auf die letzten 100 Meter kommt und spürt, ich kann das Rennen gewinnen… Auch wenn es die wenigsten nachvollziehen können: Dieses Gefühl ist unbeschreiblich und primitiv zugleich, aber es ist wahnsinnig schön, die Ziellinie als Erste zu überqueren.

Solche Emotionen erlebt man nur im Spitzensport. Was hat dich deine Laufbahn gelehrt?
Es geht immer weiter, egal an welchem Punkt du stehst. Das ist etwas, das ich ins «richtige Leben» mitgenommen habe. Oft sieht man bei Schicksalsschlägen nicht mehr durch, doch es geht weiter. Heute ist es nicht gut, aber morgen oder übermorgen wird es wieder besser. Bleib dran und glaub daran, dass es gut kommt – wenn du es willst. Diese positive Grundeinstellung habe ich im Sport gelernt und mitgenommen. Man muss allerdings auch etwas dafür tun.

Inwiefern hat dich die Leichtathletik geprägt?
Die Leichtathletik ist immer noch sehr präsent. Ich habe ja nur als Athletin aufgehört, nicht aber als Trainerin. Die Leichtathletik hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. All die Leute, Begegnungen, Ziele, die man sich steckt, erreicht oder nicht erreicht, der ganze Weg bis dahin war in meinem Fall sehr von der Leichtathletik geprägt. Darum sage ich: Ohne Leichtathletik wäre ich wahrscheinlich ein ganz anderer Mensch geworden.

War das mit ein Grund, dass du nach der Karriere auch Trainerin geworden bist? 
Das war reiner Zufall – wie schon bei meinen Anfängen als Athletin. Ich wollte eigentlich nie Trainerin werden. Die Athletin sollte im Mittelpunkt stehen, um sie geht es, und der Trainer ist irgendwo im Hintergrund. Das war für mich nicht erstrebenswert. Doch im STB gab es 1996 grad eine Lücke und ich wurde angefragt, ob ich das Amt «vorübergehend» übernehmen könne, was ich dann auch tat. Nach drei Monaten merkte ich, wie toll es ist. Auf diese Art kann ich immer noch dabei sein. Zudem hat sich mein Trainersein seither total verändert: Zu Beginn hat mich nur die Leistung interessiert, ich war auch sehr hart als Trainerin, heute siehe ich meine Arbeit viel ganzheitlicher, betrachte mich als Wegbegleiterin und sehe, was die Athleten mitnehmen für ihr Leben. Natürlich steht die Leistung nach wie vor an erster Stelle, aber der Weg ist viel wichtiger als die Medaille am Schluss.

Was gibst du deinen Athleten denn mit auf den Weg?
Freude am Sport, konsequent Ziele verfolgen, mit Niederlagen umgehen zu können, positives Denken, Stärken und Schwächen erkennen und akzeptieren, Hartnäckigkeit, tolle Erlebnisse, vor allem als Gruppe. Es sind zwar alles Einzelathletinnen und Einzelathleten, aber was sie als Gruppe erleben, hilft ihnen auch später einmal im Leben. Die Zeit – die vielen Jahre –, in denen sie zusammen trainieren und verschiedenen Zielen nachjagen. Gemeinsam im Team etwas zu erreichen, das ist extrem wertvoll.

Und was würdest du im Nachhinein als Athletin anders machen?    
Verschiedenes, aber eine meiner wesentlichen Erkenntnisse ist, dass man nicht anfangen darf, sich zu verkrampfen, über-ehrgeizig zu werden. Man muss ein Ziel konsequent verfolgen, muss alles dafür tun und trotzdem soll die Freude im Vordergrund stehen. Es darf nicht zu einer Verbissenheit führen. So wie ich etwa nach der Sperre das Gefühl hatte, unbedingt beweisen zu müssen, dass ich unschuldig bin, indem ich wieder Topleistungen erbringe. Das hat richtiggehend einen Kampf in mir ausgelöst. Doch es darf nicht in einem Kampf ausarten. Einen 1500-m-Lauf zu gewinnen, sollte ein Spiel bleiben. Wenn ich es gewinne, kann ich mich freuen. Wenn ich es verliere, heisst das nicht, dass ich ein Versager bin. Es geht weiter, ich bekomme ein neues Rennen, eine neue Chance. Diese Optik hatte ich damals nicht.

*Der «Fall Gasser» ist bis heute das «grösste Rätsel im Schweizer Sport» (NZZ). Die A- und B-Probe der WM-Dritten von Rom über 1500 Meter waren nicht identisch – die Profile der körpereigenen Steroidhormone stimmten nicht miteinander überein – und deuteten auf fremden (tierischen) Urin. Das Römer Labor verlor später die IOC-Akkreditierung, Sandra Gasser ihren Schweizer Rekord (3:59,06 Minuten) und Podestplatz, nicht aber die Bronzemedaille. Dies im Gegensatz zum italienischen Weitspringer Giovanni Evangelisti, dessen letzter Versuch von den einheimischen Kampfrichtern falsch gemessen wurde (8,38 m statt maximal 7,80 m), wodurch er zunächst als Dritter statt Vierter gewertet wurde…

Sandra Gasser, die sich als «Bauernopfer» des damaligen IAAF- und FIDAL-Präsidenten Primo Nebiolo (ITA) sah, beteuert bis heute ihre Unschuld. Dazu Matthias Kamber, ehemaliger Direktor von Antidoping Schweiz: «Bei einem analogen Laborfehler würde heute wahrscheinlich zugunsten der Athletin entschieden.» Die 1987 angeblich einzige überführte WM-Medaillengewinnerin sass eine zweijährige Dopingsperre ab und startete am 8. September 1989 ihre zweite Laufbahn, ehe sie 1997 vom Spitzensport zurücktrat und sich zur Vereins- und Verbandstrainerin ausbilden liess.

(sto)