Marcel Schelbert: «Stetigkeit hilft, wenn die Freude pausiert»

Der Swiss Athletics History Maker Marcel Schelbert (LC Zürich) gewann 1999 WM-Bronze über 400 m Hürden in der immer noch gültigen Schweizer Rekordzeit von 48,13 Sekunden. Im Interview erzählt der Sportler des Jahres 1999, wer ihn inspiriert hat, was ihm geblieben ist und welche Erfahrungen er an die jüngere Generation weitergibt. 

Marcel Schelbert, an welche Momente deiner Leichtathletik-Karriere erinnerst du dich noch immer gerne?
Da sind ganz viele Zieleinläufe. Der Moment, in dem du die Ziellinie überquerst und weisst, du hast deine Leistung gebracht, ist einer der schönsten im Sport. Besonders intensiv war für mich der Moment beim Auslaufen in Sevilla (nach dem Gewinn der WM-Bronzemedaille 1999 – die Redaktion), als ich für mich alleine war und merkte: Alles, was man in den letzten Jahren investiert hat, hat sich irgendwie ausgezahlt.

Und auf welche Momente blickst du weniger gern zurück?
Zum einen die Trainings, die nicht so liefen, wie du dir das vorgestellt hast. Vor allem, wenn du nicht weisst, woran es lag. Zum anderen war es im Wettkampf wiederum der Zieleinlauf – diesmal mit umgekehrten Vorzeichen –, wenn du zwei Sekunden zu langsam bist und dich nach dem Warum fragst. In solchen Momenten kommst du kurz ins Zweifeln. Zum Glück sieht die Welt am nächsten Tag meist wieder anders aus.

Wer hat dich zum dritten Schweizer WM-Medaillengewinner (nach Werner Günthör und Anita Weyermann) gemacht? Oder anders gefragt: Wer waren deine «Swiss Athletics History Maker-Maker»?
Am Schluss war es sicherlich ein ganzes Team. Die Familie, die dich unterstützt, früher die Eltern, die dich ins Training gefahren und wieder abgeholt haben. Dann selbstverständlich der Trainer, die Person wahrscheinlich, mit der du ausserhalb der Familie am meisten Zeit verbringst und die dich am besten kennt. Und am Schluss bestimmt auch die Teamkollegen, mit denen du trainierst und dich gegenseitig pushst. Sie alle gehören zu deinen «Makern» – abgesehen davon, dass du selbst auch mitspielen musst.

Wie bist du zur Leichtathletik gekommen?
Ich habe immer gerne Sport getrieben und bin über den Turnverein ins Polysportive reingerutscht. Obwohl ich zu Beginn auch Fussball spielte, sagte mir als Einzelkämpfer die Leichtathletik mehr zu. Die Vielfältigkeit, welche die Leichtathletik bietet, machte mir schon immer Spass.

Vom Anfang bis zum Ende warst du beim selben Trainer (Andreas Hediger) im selben Verein (LCZ). Warum?  
Spannend war sicher, dass man sich gemeinsam entwickeln konnte. Ich wurde grösser, wurde schneller und begann mit der Zeit, gewisse Dinge im Training zu hinterfragen. Genauso hat sich Andreas als Trainer weiterentwickelt. Dieses Tandem erwies sich als sehr befruchtend. Ein zweiter Vorteil war, dass man viel weniger Energie für Diskussionen verbraucht, wenn man einander kennt. Jeder von uns wusste ganz genau, woran er beim anderen ist. Das Setup im LCZ war von Anfang an grossartig und es gab keinen Grund, etwas daran zu ändern, zumal der Erfolg das Setup jedes Jahr von Neuem bestätigte.  

Wer hat dich inspiriert respektive: hattest du ein Vorbild?
Ich habe mich stets an jenen orientiert, die schneller waren als ich. Was machen sie gut? Was machen sie besser als ich? Ein personifiziertes Vorbild hatte ich nicht. Selbstverständlich gab es zwei, drei Athleten, die einem geblieben sind. Etwa Colin Jackson, den ich bei «Jugend trainiert mit Weltklasse Zürich» kennen lernen durfte. Eine sympathische Persönlichkeit, nebenbei auch noch erfolgreich. Da versuchte man sicher, das eine oder andere abzuschauen. Wie tritt der Athlet auf? Wie geht er in den Wettkampf? Wie kommt er an? Generell war es allerdings die Leistung, die mich motiviert und beeindruckt hat.  

Was hat dich selbst als Athlet angetrieben?
Ich war als Athlet eine sehr rationelle Person. Die Frage nach dem Aufwand und Ertrag kam bei mir immer relativ rasch. Mein Hauptantrieb war es, besser zu werden. Man investiert Zeit, nimmt Entbehrungen auf sich. Wenn du am Schluss die Bestätigung erhältst – eine Zehntelsekunde schneller bist oder ein paar Zentimeter weiter kommst –, dann motivierte das für das nächste Ziel. Die 400 m Hürden waren meine Hauptdisziplin. Hier waren Aufwand und Ertrag am höchsten. Aber auch in der Staffel und als Team gab es Herausforderungen, die ich als Ausgleich brauchte. Vom einen konnte ich auch fürs andere profitieren.

Hattest du einen Spleen oder besondere Rituale vor dem Start?
Spleen nicht, aber vor wichtigen Wettkämpfen habe ich mich häufig mit den «lustigen Taschenbüchern» von Mickey Mouse und Donald Duck abgelenkt. Ich war nicht der Typ, der sich mit Musik gepusht hat, musste vor dem Start eher runterkommen, Ruhe finden. Sehr oft habe ich mich auch von vergangenen Leistungen inspirieren lassen oder von einem tollen Stadion. So bin ich am Abend zuvor gerne ins Stadion gegangen und habe die Atmosphäre aufgesogen.

Wie war dein Mindset an der WM in Sevilla 1999?
Auch hier begaben wir uns am Tag vor der Eröffnungsfeier ins Stadion, um uns alles anzuschauen. Es kam mir vor wie ein Kessel, fast schon wie eine Halle. Dann dachte ich: Wenn das voll ist… Vor dieser Kulisse laufen zu können, ist einfach mega! Hier kannst du gar nicht schlecht sein, dermassen gut sind die Rahmenbedingungen. Diese positive Einstellung vermochte ich glücklicherweise in den Wettkampf mitzunehmen und in Leistung umzumünzen.

Was war deine grösste Stärke als Athlet?
Ich glaube zwar, dass dir eine gewisse Struktur, (Selbst-)Organisation und nicht zuletzt Stetigkeit hilft, auch dann dranzubleiben, wenn es mal nicht so läuft. Auf Weltniveau hebt man sich mit dieser Einstellung allerdings kaum mehr ab. Was mir half: Ich war eine Person, die darauf vertraute, was sie konnte. Eine Person, die sich nicht aufgrund eines speziellen Umfelds oder einer neuen Situation verunsichern liess. Vergangene Leistungen gaben mir Sicherheit. Vielleicht war es ein Privileg, weniger an mir zu zweifeln als andere.

Gibt es etwas, das du im Nachhinein bereust oder anders machen würdest?
Klar, hat man sich schon ein paarmal bei der Frage erwischt, was wäre, wenn ich noch fünf Jahre weiter Leichtathletik betrieben hätte (Marcel Schelbert trat 2003 mit 27 Jahren vom Spitzensport zurück – die Redaktion). Auch fragte ich mich, ob ich mehr in die Regeneration hätte investieren müssen, um weniger verletzt zu sein, oder das BWL-Studium ein, zwei Jahre hätte aussetzen sollen. Mit dem Wissen von damals und unter den gegebenen Umständen denke ich jedoch, habe ich die richtigen Entscheide getroffen.

Was hat dir die Leichtathletik gegeben? 
Viel Freude und drei, vier Kollegen, die ich gefunden habe und die mich durchs Leben begleiten. Die Leichtathletik gab mir auch eine Orientierung in Form von mittel- und langfristigen Zielen, auf die man kontinuierlich hinarbeitet. Für mich war es eine grossartige Lebensschule, die einen heute vielleicht ein bisschen gelassener macht, wenn etwas nicht auf Anhieb klappt.

Inwiefern bist du mit der Leichtathletik verbunden geblieben?
Ich habe noch Kontakt zu einer Gruppe von ehemaligen Athleten. Wenngleich nicht mehr gross im Stadion, verfolge die Leichtathletik nach wie vor über die Resultate. Es interessiert mich, was abgeht – sowohl in der Schweiz als auch international. Ausserdem hat meine Tochter mit der Leichtathletik begonnen. Hier merkt man, dass man das weitergeben möchte, was einem früher selber viel Spass gemacht hat. Von daher bin ich im Herzen immer noch Leichtathlet, auch wenn das Leben abseits der Bahn andere Formen angenommen hat.

Was würdest du deiner Tochter – und deinem Sohn – denn mit auf den Weg geben?
Stetigkeit und Freude. Die Freude ist eine Gabe. Wenn du sie hast, dann hilft sie dir. Sie ist aber nicht immer da. Im Moment, in dem sie mal eine Woche verschwunden ist, hilft dir die Stetigkeit. Montag und Mittwoch ist Training. Diesen Rhythmus musst du einfach leben. Das kontinuierliche Arbeiten hilft dir, die Zeit zu überbrücken, bis in zwei, drei Wochen wieder die Sonne scheint und die Freude zurückkehrt.

(sto)